Karl-Bonhoeffer-Nervenklink 1

 

Karl-Bonhöfer-Nervenklinik

Gewalt, Fesselung und Isolation waren im 19. Jahrhundert die Realität der psychiatrischen Behandlung in Berlin. Als die Charité 1880 die „Staatliche Irren- und Idiotenanstalt Dalldorf“ eröffnete, hoffte sie, eine neue Ära der Versorgung psychisch Kranker einzuleiten.

Die Anstalt im ländlichen Dalldorf sollte 600 Patienten aufnehmen und überfüllte, archaische innerstädtische Stationen ersetzen. Statt einer großen Anstalt, in die alle Patienten gepfercht wurden, wurde Dalldorf als Dorf konzipiert, mit zehn attraktiven gelben Backsteinbauten, die um einen zentralen Verwaltungsblock angeordnet waren. Neben den architektonischen Verbesserungen wollten die Dalldorf-Gründer auch den Umgang mit den Patienten verändern. Zwar gab es in Dalldorf geschlossene Stationen, aber wer gesund war, konnte an organisierten Ausflügen und Festen teilnehmen und Besuche von Verwandten empfangen, wer arbeitsfähig war, wurde in den Werkstätten des Hauses beschäftigt oder kümmerte sich um die umliegenden Gärten.

Die Nervenklinik hatte jedoch von Anfang an ein Überbelegungs- und Imageproblem. Innerhalb von sechs Monaten nach der Eröffnung waren mehr als 1.000 akut kranke Menschen in der Einrichtung untergebracht – fast das Doppelte der geplanten Kapazität. 1883 warnten Zeitungen vor den „Irren von Dalldorf“ und das medizinische Personal wurde als „sentimentale Humanisten“ angegriffen. Die Anwohner begannen, sich über die Präsenz der Klinik zu ärgern. Ende der 1880er Jahre konnte durch Hinzunahme bisher ungenutzter Räume in den Dachgeschossen und die Auslagerung von Dienstwohnungen die Kapazität der Irrenanstalt auf 1.300 Kranke erhöht werden.

Die Belastung durch die wachsende Patientenmenge erreichte ein kritisches Niveau während des Ersten Weltkriegs, in dem die Lebensmittelversorgung Deutschlands blockiert war. Die Folge war ein Massenverhungern in den Berliner Kliniken. Die Kriegstragödie machte Dalldorf noch bekannter, und 1925 forderten die Einwohner, ihr Dorf in Wittenau umzubenennen, um die Verbindung zur Anstalt zu kappen. Doch die Klinik entschied sich, auch den Namen zu übernehmen, wurde noch im selben Jahr zu den Wittenauer Heilstätten – und stellte damit den örtlichen Bezug wieder her.

Auch Wittenau ging mit dem Ende der Weimarer Republik 1933 in seine dunkelste Zeit. Ein Zweig der Hitlerjugend begann, Gebäude für ihre Vereidigungszeremonien zu besetzen, während Dutzende von Krankenhausmitarbeitern entlassen und durch unerfahrene, aber loyale Nazi-Parteimitglieder ersetzt wurden. Die Regierung versuchte schnell, alles zu unterbinden, was eine „gesunde“ deutsche Bevölkerung am „Gedeihen“ hindern könnte, und so wurde 1934 ein neues Gesetz zur „Verhütung erbkranken Nachwuchses“ erlassen. Zwischen 1934 und 1938 reichte das Klinikpersonal insgesamt 1.828 Anträge auf Unfruchtbarkeitsbehandlungen bei den sogenannten „Erbgesundheitsgerichten“ ein.

Mit dem Ausbruch des Krieges 1939 ging die Politik der Nazis von der Sterilisation zur Tötung über: „Vernichte lebensunwertes Leben“ lautete das Mantra. Es gibt Hinweise darauf, dass die 4.607 im Krieg verstorbenen Patienten der Klinik vor allem an Vernachlässigung, Nichtbehandlung und Nahrungsverweigerung starben, wobei die Sterblichkeit jüdischer und ausländischer Patienten besonders hoch war. Was genau in Wittenau während der NS-Herrschaft geschah, wurde jahrzehntelang geheim gehalten. Erst 1984 entdeckte man die vermeintlich verschollenen Akten – vergraben unter 90.000 Dokumenten in den Archivkellern des Krankenhauses.

1946 wurde der 78-jährige Karl Bonhoeffer mit der Aufgabe betraut, in der angeschlagenen Einrichtung eine halbwegs gute Versorgung aufzubauen. Vom Krieg gezeichnet, verschlechterte sich der bauliche Zustand der Anstalt immer weiter. Neue Blöcke und Anbauten wurden in der Folgezeit auf dem Gelände errichtet, um das ständige Problem der Überbelegung zu lindern. Mit der Teilung der Stadt war Wittenau das einzige psychiatrische Krankenhaus für ganz West-Berlin.

Mit Beginn der 1960er Jahre verbesserte sich die Versorgung der Patienten dramatisch, da eine neue Generation von Beruhigungsmitteln eingeführt wurde, die den Bedarf an körperlicher Fixierung reduzierte. Das Leben der Patienten wurde freier: Die Mauern um die Gärten der Anstalt wurden abgerissen und die Gitter an den Fenstern entfernt.

In den 1970er-Jahren war Heroin in Westdeutschland auf dem Vormarsch. Die Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik – im Volksmund „Bonnies Ranch“ genannt – wurde zunehmend von Drogenabhängigen dominiert. Eine dieser Patientinnen war Vera Christiane Felscherinow, besser bekannt als Christiane F., die Hauptfigur aus dem Buch „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ von 1981.

Nach der Wiedervereinigung ging die Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik mit dem Humboldt-Klinikum in der landeseigenen Klinikkette Vivantes auf, die damit begann, psychiatrische Abteilungen und ambulante Dienste aus Wittenau abzuziehen.

Im Jahr 2006 – nach 126 Jahren Betrieb – wurde die Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik endgültig für Patienten geschlossen. Die gelben Backsteingebäude in Wittenau verfielen, nur eine Hochsicherheits-Psychiatrie für Straftäter ist auf dem Gelände verblieben. Seit 2015 nutzen die Berliner Behörden die Gebäude zusätzlich als Notunterkünfte für neu ankommende Flüchtlinge.